Prof. Dr. Matthias Beenken lehrt an der Fachhochschule Dortmund für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Versicherungswirtschaft und ist seit Jahren in der Versicherungsbranche tätig. Im Anschluss eines Vortrags zur IDD (Insurance Distributive Directive) sprach er mit Ina Neuhaus über das für viele Versicherungsunternehmen oftmals leidige Thema. Und zeigte auf, dass wer seine Kunden gut versteht und berät, die aktuelle Vertriebsrichtlinie nicht fürchten muss.
„Der Verzicht ist verzichtbar“ – Wohl und Wehe der IDD
Digitale Kompetenz 17. Mai 2018
Aktuelles zur Person
Bildungsweg: Versicherungskaufmann, Diplom-Betriebswirt (FH) und Diplom-Kaufmann jeweils im berufsbegleitenden Fernstudium, externe Promotion an der Universität zu Köln zum Dr. rer. pol. bei Prof. Dr. H. R. Schradin mit dem Thema „Der Markt der Versicherungsvermittlung unter veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen unter besonderer Berücksichtigung von Sourcingstrategien des Versicherungsvermittlerbetriebs“
Hochschultätigkeit: Professur am Fachbereich Wirtschaft der FH Dortmund, Lehrgebiet Versicherungswirtschaft, insbesondere Versicherungsvertrieb, -marketing, Unternehmensführung, Personalmanagement
OEV: Für unsere Kunden ist die neue Vertriebsrichtlinie ein Thema, um dass man sich kümmern muss, wenn auch nicht unbedingt gern. Ist die IDD tatsächlich nur ein lästiges Pflicht-Thema?
Prof. Dr. Matthias Beenken: Zunächst ist die wichtigste Botschaft: Der Kunde soll fair behandelt werden und das immer im besten Wissen und Gewissen des Versicherers oder Versicherungsvermittlers. Um das umzusetzen enthält die IDD eine Reihe von Regeln, die im Einzelfall bürokratisch wirken können. Diese Regeln führen dazu, dass man sich nochmal ganz genau überlegen muss: Für welchen Markt biete ich welche Produkte an und über welche Kanäle. Verstehe ich, was meine Kunden brauchen.
Die IDD weist also einen Weg zu einem ganzheitlicheren Ansatz, der dazu führt, dass ich per Abfrage der Kundenbedürfnisse gleichzeitig meinen Kunden besser kennenlerne. Meine Erfahrung zeigt, dass dieses Herangehen letztlich von Vorteil für Versicherungsunternehmen und -vermittler ist. Wenn für die Kunden nachvollziehbar und verständlich ist, warum genau diese Versicherung die richtige für sie ist, tritt die „Kaufreue“ nicht ein und die Wechselbereitschaft ist ebenfalls geringer. Und deswegen ist die IDD an sich erstmal eine gute Sache.
Damit der von Ihnen erwähnte ganzheitliche Ansatz funktioniert, muss ich verstehen, wie meine Kunden ticken. Wie mache ich das am besten?
Marktforschung ist in diesem Zusammenhang auf jeden Fall notwendig – allerdings gezielt und gesteuert. Besonders wenn ich in einen Massenmarkt einsteige, sind auch Methoden wie die Entwicklung von Marketing-Personas hilfreich. Und besonders wichtig: Tretet mit euren Kunden in Kontakt. Wenn sie beispielsweise ein Pflegeprodukt entwickeln, dann macht es Sinn mit Menschen in Pflegeheimen zu sprechen, um zu erfahren: Was bewegt euch da? Was erwartet ihr von eurem Versicherer? Das Verständnis für die Versicherten wird dann besser, wenn ich mit Betroffenen selbst rede. Es ist ein Trugschluss, dass der Versicherer nur gebraucht wird, wenn es um das Zahlen von Geld geht. Sondern der Versicherer wird auch als Begleiter erwartet, um Probleme zu lösen – etwa im Pflegefall.
Besonders spannend für uns ist natürlich der gesamte Online-Bereich. Wie schätzen Sie hier die Potenziale durch die IDD ein?
Das Internet bietet die große Chance Menschen in bestimmten Lebenssituationen abzufangen. Das nutzen bereits viele große Firmen kommerziell sehr erfolgreich, indem sie Menschen dabei etwa helfen, ihr Leben zu managen, sich auszutauschen oder sich Bestätigung zu holen – davon lebt das ganze Thema soziale Netzwerke. Nicht zu unterschätzen ist auch der gesamte Markt der Bewertungsplattformen. Bevor ich mir ein Hotel buche, gucke ich mir vorher auch an, was erwartet mich da, was haben andere über das Hotel gesagt, was haben sie da erlebt.
Und hier wäre ein Ansatzpunkt für Versicherer. Es gibt Situationen, in denen Menschen eben auch im Internet nach Antworten suchen. Etwa rund um die Themen Pflege, Hausbau oder die Frage „Ich habe mir ein Auto gekauft und was muss ich denn da jetzt machen?“ Da sehe ich das Potenzial, dass Versicherer es noch besser schaffen, den Kunden tatsächlich dort abzuholen, wo er steht und zu informieren, wie man mit solchen Situationen umgehen kann.
Sprich: Wünsche und Bedürfnisse des Kunden abfragen und verstehen, das spiegelt sich auch in der IDD wieder. Wie kann das online gelingen?
Wünsche fange ich bereits damit ein, dass Menschen auf bestimmte Themenseiten kommen. Ich habe mir ein Auto gekauft, brauche eine Autoversicherung, dann gehe ich auf einen Tarifrechner Autoversicherung. Darüber habe ich einen Wunsch kundgetan. Was meines Erachtens zu kurz kommt, ist dem Kunden oder dem Nutzer zu zeigen, dass es weitere Themenbereiche gibt, die zu seiner Situation passen. Also, ich habe mir ein Auto gekauft, natürlich brauche ich die Autoversicherung, aber wie ist es in diesem Zusammenhang mit dem Thema Rechtsschutz oder Unfallversicherung.
Chat-Bots sind beispielsweise auch eine ganz gute Sache, um überhaupt erstmal das Anliegen des Kunden einzugrenzen, um ihm eine Orientierung zu geben. Ich habe eine sehr unbestimmte Frage, beispielsweise ist eine Pflegesituation aufgetreten und ich weiß jetzt gar nicht so richtig, wie kann ich damit umgehen. Jetzt könnte mir der Chat-Bot erste Fragen beantworten, um mir eine Orientierung zu geben.
Beratung ist aus Ihrer Sicht das A und O – ob nun online via Chat oder Video oder im persönlichen Gespräch. Aus Sorge, die Richtlinien der IDD nicht erfüllen zu können, haben einige Versicherungsunternehmen zu einem Kniff gegriffen, dem Beratungsverzicht. Was halten Sie davon?
Das Thema Beratungsverzicht, ist in der Tat, eine ganz unglückliche Geschichte, was der Gesetzgeber da scheinbar als Lösung angeboten hat. Zumal der Beratungsverzicht eigentlich nur als Ausnahmefall angedacht und aktiv vom Kunden ausgehen muss. Das heißt also, wenn der Kunde sagt: „Ich habe jetzt schon zwanzig Mal in meinem Leben eine Autoversicherung abgeschlossen, jetzt steht zum 21. Mal eine an. Ich habe das System verstanden, ich kenne den Unterschied zwischen Voll- und Teilkasko, ich weiß was ich will.“ Für solche Fälle ist der Beratungsverzicht in Ordnung.
Was aber nicht sein sollte, ist, dass ich als Versicherer aktiv den Verzicht nahelege, als „Du musst jetzt hier mal einen Klick machen“ bei einer, für mich vielleicht auch als Laien, kryptischen Verzichtserklärung, sonst geht es hier nicht weiter mit der Angebotsstellung und dem Abschluss. Dann hat das eine andere Qualität. Dann lege ich als Versicherer dem Kunden nahe, dass die Beratung unerwünscht und überflüssig ist. Dass er doch bitte nur mal eben abhaken soll, wie man das aus anderen Zusammenhängen, zum Beispiel bei Online-Käufen von den AGBs kennt, die auch alle abhaken. Aber das war nicht mit dem Beratungsverzicht gemeint.
Der Verzicht ist auch nicht notwendig, wenn man die IDD sachgerecht umsetzt. Dann ist man wunderbar aufgehoben, das geht auch alles prima online: Ich kann nach Wünschen und Bedürfnissen fragen, ich kann dazu ein passendes Angebot zeigen und im Massengeschäft eine standardisierte Begründung, warum dieses Angebot zu den abgefragten Wünschen und Bedürfnisse passt. Und ich kann das alles zusammengefasst in einem automatisch erzeugten Beratungsdokument dem Kunden zur Verfügung stellen und habe damit die Richtlinie hervorragend erfüllt. Und vor allem: Der Kunde hat dann auch etwas an der Hand, was er später nochmal nachlesen kann: Warum habe ich jetzt diese Versicherung abgeschlossen, wie ist es dazu gekommen, welche Fragen waren mir gestellt worden, wie habe ich darauf geantwortet. Und im Idealfall der Aha-Effekt „Jetzt verstehe ich, deswegen passte das Angebot.“ Das will man ja eigentlich nur erreichen, das kann man wunderbar umsetzen. Der Verzicht ist verzichtbar.